Ein Gleiches

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„Ein Gleiches“ von J.W. Goethe

Ich habe einmal in einem tollen Buch einen ganz wunderbaren Text gefunden. Das Buch heißt „Die Unsterblichen“, und Milan Kundera hat es in Paris geschrieben. Zum Abschluss hier nun der besagte Textauszug:

„Erst nach dem Krieg erinnerte sich die Mutter der Amtssprache ihrer Eltern, und Agnes wurde aufs französische Gymnasium geschickt. Dem Vater war gerade noch ein einziges deutsches Vergnügen erlaubt: der älteren Tochter Goethes Verse im Original zu zitieren. Es ist eines der bekanntesten deutschen Gedichte, die je geschrieben wurden, alle deutschen Kinder mussten es auswendig lernen:


Über allen Gipfeln

Ist Ruh,

In allen Wipfeln

Spürest du

Kaum einen Hauch;

Die Vögel schweigen im Walde.

Warte nur, balde

Ruhest du auch.


Der Gedanke des Gedichts ist einfach: im Walde schläft alles, auch du wirst bald schlafen. Der Sinn der Dichtung liegt jedoch nicht darin, uns durch einen überraschenden Gedanken zu verblüffen, sondern einen Augenblick des Seins unvergesslich und einer unerträglichen Sehnsucht würdig zu machen.

Jeder Vers hat eine unterschiedliche Silbenzahl, Trochäen, Jamben und Daktylen wechseln sich ab, der sechste Vers ist merkwürdig länger als die anderen, und obwohl das Gedicht ei-gentlich aus zwei Vierzeilern besteht, endet der erste Satz grammatikalisch asymmetrisch mit dem fünften Vers; dadurch entsteht eine Melodie die nie zuvor existiert hat und nur in diesem einen Gedicht auftritt, das ebenso wunderbar wie vollkommen ist.“

So weit der wirklich schöne Textauszug mit der hübschen Interpretation von Milan Kundera. Eigentlich müsste man das Gedicht jetzt noch einmal lesen; ich lasse es daher hier noch einmal folgen:


Über allen Gipfeln

Ist Ruh,

In allen Wipfeln

Spürest du

Kaum einen Hauch;

Die Vögel schweigen im Wade.

Warte nur, balde

Ruhest Du auch.

Literaturhinweise