Das erste Gedicht: Unterschied zwischen den Versionen
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[[ | [[Kategorie:Gedicht von Joachim Stiller]] |
Version vom 28. Oktober 2024, 17:23 Uhr
Das erste Gedicht
Der Hörer liegt auf der Gabel
Und ich sitze am Schreibtisch
Und schreibe mein erstes Gedicht.
Ich schreibe für Wilfried,
Für Karsten und Alvin,
Ich schreibe für den Sozialismus,
Ich schreibe für den Dritten Weg
Und für Direkte Demokratie,
Ich schreibe für das Internationale
Kulturzentrum in Achberg,
Ich schreibe für das sittliche Ideal,
Für die Erleuchtung der Welt,
Ich schriebe für die Freiheit,
Für die Liebe und für den Frieden.
Ich schreibe gegen den Krieg,
Gegen die Krankheiten dieser Welt,
Gegen Wald- und Tiersterben,
Ich schreibe gegen den Hunger,
Und gegen die Einsamkeit,
Gegen Kampfhunde und den
Ganz alltäglichen Faschismus,
Ich schreibe gegen die Werbung
Und gegen den Fernsehterror.
Ich schreibe mein erstes Gedicht.
Zum Gedicht
Dieses Gedicht aus einer frühen Schaffensperiode des Autors fällt etwa in die Zeit seiner Auseinandersetzung mit Gedichten von Ernst Jandl, Ulla Hahn und Robert Gernhardt. Das Gedicht hat drei Strophen. Die Einleitungsstrophe mit dem Einleitungssatz umfasst drei Zeilen, die beiden Hauptstrophen sind mit elf, bzw. zehn Zeilen etwa gleich lang. Die Versenden sind reimlos, und so folgt das Gedicht keinem festen Schema; es schient völlig egal zu sein, wie lang die einzelnen Strophen sind, und der Autor hat eine seiner Ansicht nach ausgewogene Länge gewählt, weder zu kurz, noch zu lang. Das Gedicht ist einem durchgängigen Rhythmus verpflichtet, der aber bei der Vollständigkeit der Sätze auch nicht „zu“ lyrisch ist. Das Gedicht ist ein Gedicht über das Dichten selber. Mit der literarischen Postmoderne, die sich bereits in den 60er Jahren in den USA andeutete, wurde das Thema oder die Aussage eines literarischen Werkes bedeutungslos. Wichtig war stattdessen das „Schreiben über das Schreiben“ – der Weg war gleichsam auch das Ziel. Man machte dem Leser klar, dass Schreiben etwas Künstliches, etwas Erdachtes war. Und so auch in diesem Gedicht. Das „lyrische Ich“ des Autors macht es bereist im Einleitungssatz der Einleitungsstrophe deutlich: Das lyrische Ich sitzt in aller Stille, also konzentriert, hinter dem Schreibtisch, und schreibt sein erstes Gedicht. Und nun kommt eben nicht das Gedicht, sondern eine zweistrophige Aufzählung, für wen oder was bzw. gegen wen oder was er denn das Gedicht schreibt, das wir wohl niemals selber zu Gesicht bekomme. Und das können wir auch nicht. Denn dieses Gedicht über das Schreiben des ersten Gedichts ist sich selbst genug, es genügt sich selbst, es ist bereits das endgültige Gedicht. Der Schlusssatz am Ende der zweiten Hauptstrophe schließt dann das Gedicht ab: „Ich schreibe mein erstes Gedicht.“ Der Kreis hat sich Geschlossen, das Gedicht über das Schreiben ist fertig. Es ist fertiges Gedicht und politisches Statement zugleich. (J.St)